Gendergerechte Statistik in Healthcare Sciences
Sprache in Medizin und Statistik
Ich möchte in einer zeitgemäßen Sprache mit ihnen kommunizieren. Das bedeutet für mich, dass ich grundsätzliche die unselige Bezeichnung „der Patient“, die alle gegenwärtigen Geschlechter meint, nicht verwende. Denn: Wenn es noch irgendeinen Beweises bedürfte, dass diese Bezeichnung ungeeignet ist, dann lieferte ihn die Medizin. Letztere benennt nicht nur Individuen, indem sie pars pro toto die männliche Bezeichnung wählt, sonder handelt auch in Forschung, Diagnose und Therapie tendenziell immer noch so, als gäbe es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Arzneimittelforschung funktioniert bis zum heutigen Tage häufig immer noch so, als bestünde die Welt realiter nur aus Männern: In der Rekrutierung der Versuchspersonen sind Kinder und Frauen unterrepräsentiert.
Dies kostet beispielsweise immer noch eine beträchtliche Anzahl von zusätzlichen weiblichen tödlichen Herzinfarkten oder schwereren Verläufen, weil geschlechtsspezifische Diagnosekriterien sowohl im Bewusstsein der Bevölkerung als auch im praktischen Handeln des Gesundheitssystems ungenügend bekannt sind respektive angewandt werden. Warum ist in der Bevölkerung „Übelkeit“ bei Frauen als Symptom für ein mögliches Stroke-event zu selten bekannt? Es gibt erst seit relativ kurzer Zeit einen Lehrstuhl für gendergerechte Medizin in der Charité. https://gender.charite.de/en/research/
In der Sprachwissenschaft ist jedoch längst nachgewiesen, dass das primär durch Sprache vermittelte Bewusstsein das Sein mitbestimmt und deshalb liegt ein Ansatz für Veränderung falschen Seins und damit für die Erhöhung der korrekt diagnostizierten bzw. korrekt selbst eingeschätzten Herzinfarkte in der Veränderung des Sprechens – auch unter Inkaufnahme von Umständlichkeit (Güterabwägung).
Wenn ich unter „Statistical Learning“ in den Erklärungen statistischer Funktionsbeziehungen durchgehend eine der möglichen gendergerechten Bezeichnungen verwende, kommt die Zielgruppe, die ich auf jeden Fall erreichen möchte, vermutlich am wenigsten zurecht. Daher habe ich In diesem Zusammenhang nur die Möglichkeit, mich so zu verhalten, wie ich es eigentlich nicht möchte, oder Sätze zu verdoppeln. Damit es allen klar ist, was ich eigentlich schreiben sollte, schreibe ich im Intro (im Kontext der Medizin): „Beobachtungi“ ist in der Regel der Patienti oder die Patientini für i= 1,2, … n. Ich hätte auch schreiben können: Eine „Beobachtungi“ ist in der Regel der /die Patient*ini. Stattessen schreibe ich meist: Eine „Beobachtungi “ ist i. d. R. der Patienti. Für Vorschläge zur praktikablen gendergerechten mathematischen Sprache bin ich offen und dankbar.
Statistik bestimmt das Bewusstsein
Wie verändern wir das Denken über bestimmte, umstrittene Sachverhalte? Wie können wir beispielsweise an dem Glauben rütteln, dass Sex – nicht Gender – die Ätiologie einer bestimmten Erkrankung nicht mitbestimmt?
Aufgrund oben aufgeführter, oft nicht einmal explizierter medizinischer Annahmen, beispielweise, dass Sex keine Rolle hinsichtlich der Erkrankung x spiele, erntet man nicht selten ungläubige Reaktionen, wenn man gegenteilige Meinung äußert. Was ist in dieser Situation zu tun?
Ein statistisches Modell ist zu etablieren, das den behaupteten Sachverhalt belegt.
Es ist sogar fast das einzige, was man tun kann. Dies reicht jedoch oft genug nicht hin. Denn die Ergebnisse von statistischen Modellen sind nicht selbsterklärend, sie bedürfen der angemessenen Interpretation. Selbst wenn man „alles richtig“ gemacht haben sollte, kann man die Erfahrung machen, dass Ergebnisse von jenen nicht geglaubt werden, die stillschweigend nach anderslautender Auffassung arbeiteten.
Umso wichtiger ist Handwerk. Ich musste selbst die Erfahrung machen, dass eine nicht bedachte statistische Maßnahme, i. e. ein nicht geschriebener Dreizeiler in der Datenaufbereitung, dazu führen kann, dass die Arbeit von Monaten mehr oder weniger im Papierkorb landet. Natürlich nicht die ganze Arbeit, der Weg ist nie umsonst, aber wesentliche Teile der Resultate.
Damit dies nicht passiert, kann man Vorkehrungen treffen. Eine wäre, besser nach dem Vier-Augen- als nach dem Zwei-Augen-Prinzip vorzugehen. Das ist bei medizinischen Entscheidungen großer Tragweite Good Clinical Practice (GCP) und sollte auch in der Statistik gelten. Meine Aufgabe sehe ich darin, zumindest brauchbares, vielleicht sogar gutes Handwerk zu betreiben. Bescheiden anmutend, aber anspruchsvoll genug:
„Handwerk ist ein fundamentaler menschlicher Impuls. Das Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gut zu machen, »sein Handwerk zu verstehen«. Das gilt zum Beispiel für den Bauer einer Stradivari-Geige oder für einen Linux-Programmierer. Doch bei allem offenkundigen Materialismus haben wir häufig ein gespaltenes Verhältnis zu den realen materiellen Dingen um uns herum. Ich plädiere dafür, dem Handwerk seine Würde zurück zu verleihen und sich wieder auf die Welt der Dinge einzulassen.“
(Nach Richard Sennet, Handwerk. Berlin-Verlag, Berlin, 2008)